Musik im Alter?
Es gibt nichts besseres!
Die letzten Töne von „Kein schöner Land“ verhallen. Zum Ausklang des Liedes schwingt ein 95-jähriger Teilnehmer des Musikkreises im Tagestreff Nordangeln noch einmal die Maraca-Rassel und setzt damit dem Lied noch einen Perkussions-Schlusspunkt. Es ist Donnerstag Vormittag und die Gäste des Tagestreffs haben sich im sonnigen Gemeinschaftsraum im Kreis zusammengesetzt. Die Musikgeragogin Petra Voyatzian ist wie jeden Donnerstag zu Besuch, um mit den rund zehn Damen und Herren zu singen. Wie immer mit dabei ist ihr Hund Liese, ihre Ukulele und einige kleine Perkussionsinstrumente, mit denen die Gäste die Lieder begleiten können.
Frau Voyatzian, was genau ist Musikgeragogik?
Petra Voyatzian: Die Musikgeragogik will Menschen im Alter bilden und ganzheitlich fördern und nutzt dazu die Musik. Es geht nicht darum, einem alten Menschen ein Instrument neu beizubringen. Vielmehr wird die Musik als Türöffner genutzt, um Menschen auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu erreichen und zu aktivieren.
Wie sieht das konkret aus?
PV: Wir sitzen in der Gruppe zusammen und singen gemeinsam. Das ist eine soziale Aktivität, bei der sich alle als Teil einer Gemeinschaft wahrnehmen und einbringen können. Ich kenne alle Teilnehmenden und ihre Vorlieben schon länger und kann gut persönlich auf sie eingehen. Dadurch kommen wir ins Gespräch mit- und untereinander, alle können etwas beitragen. Gemeinsam kramen wir unsere Erinnerung nach Liedern durch: Wer kennt ein Lied, das mit ‚C‘ anfängt? Dadurch wird die Langzeiterinnerung aktiviert. Wenig später fragen wir uns ‚Welchen Anfangsbuchstaben eines Liedes hatten wir eben nochmal?‘ Dadurch aktiviert sich das Kurzzeitgedächtnis.
Fühlen sich manche gehemmt, weil sie sich vielleicht nicht an die Text erinnern?
PV: Niemand blamiert sich. Erstens herrscht kein Singzwang, zweitens ist es auch völlig okay, die Lieder einfach mitzusummen. Und drittens bin ich ja da mit meiner Ukulele und meiner Stimme. Ich achte darauf, gut hörbar zu sein, dass man sich hinter meiner Stimme und Ukulele auch ein bisschen verstecken kann. Viele haben Sorge, dass ihre Stimme im Alter nicht schön genug sei, und singen daher leise. Aber sie singen! Und das wirkt positiv: Es kräftigt die Atmung, Vibrationen im Körper sorgen für Wachheit, und einen antidepressiven Effekt hat es auch.
Hund Liese läuft schwanzwedelnd im Gruppenraum herum schnüffelt an der Tasche seiner Besitzerin. Petra Voyatzian gibt ihm zwischen zwei Liedern einen Kauknochen.
Ist es nicht schwierig, zu musizieren, zum Singen zu animieren und dabei noch den Hund im Blick zu behalten?
PV: Genauso, wie wir über die Musik ins Gespräch kommen, kommen wir auch über das Tier ins Gespräch. Liese macht ihren Job perfekt, sie ist unterhaltend, aber auch zurückhaltend. Sie kennt die Menschen hier gut, weiß, wer gern mit Hunden spielt und wer nicht. Sie begleitet mich schon, seit sie ein Welpe war. Im Doppel können wir die Menschen über viele Sinne ansprechen: Stellen Sie sich vor, Sie streicheln ein weiches, warmes Hundefell, hören und singen ein Lied, klopfen mit dem Fuß den Rhythmus – das fühlt sich doch gut an.
In einer kleinen Pause greift eine Dame zum bereitstehenden Getränkeglas. Petra Voyatzian bittet auch die anderen Gäste, etwas zu trinken. Auch Liese bekommt Wasser. Das Gespräch wendet sich der Bedeutung ausreichender Flüssigkeitszufuhr im Alter zu. In solchen Momenten tritt die Musikgeragogin etwas in den Hintergrund und die langjährige Altenpflegefachkraft Voyatzian wird sichtbar.
Ihre erste Berufsausbildung zur Altenpflegerin mit Weiterbildung zur gerontopsychiatrischen Fachkraft ist die perfekte Grundlage für die Musikgeragogik?
PV: Ja, beide Gebiete ergänzen sich. Deswegen kann ich in einer solchen Tagespflege-Gruppe auch medizinisch-pflegerische Aspekte im Blick behalten und in meine Tätigkeit einbeziehen.
Das unterscheidet Ihre Arbeit auch von einem „normalen“ Singkreis?
PV: Genau, bei mir geht es nicht einfach um Unterhaltung. Bei mir stehen die Gäste im Vordergrund und wie ich ihre unterschiedlichen Fähigkeiten am besten durch Musik fördern und erhalten kann. Und wie ich darüber hinaus ihr Wohlergehen im Blick behalten kann. Meine Arbeit unterscheidet sich auch von der Musiktherapie. Denn mit einer Therapie wird eine Krankheit geheilt. Alter ist aber an sich keine Krankheit, kein Therapiegrund. Deswegen biete ich Bildung und Förderung mit Musik, nicht aber Therapie.
Aber viele alte Menschen, mit denen Sie arbeiten, haben ja oft auch mit ernsthaften Erkrankungen zu kämpfen?
PV: Stimmt, ich denke da an eine Person mit Parkinson, die früher Geige gespielt hat. Ich kann die Krankheit und ihre Symptome nicht therapieren. Aber ich kann viele Fähigkeiten dieser Person fördern und erhalten, indem wir gemeinsam von der Geige auf das Glockenspiel umschwenken.
Das erfordert vermutlich viel Feingefühl und Ausdauer?
PV: Ja, sowas ist nicht an zwei, drei Nachmittagen erledigt. Mal läuft’s gut, mal gibt’s Rückschläge. Insgesamt brauche ich für meine Arbeit Zeit und Regelmäßigkeit. Ideal ist es, wenn ich einmal in der Woche zu den Gästen komme. Wir lernen uns gut kennen, können gut aufeinander eingehen. Und die Gäste haben so die Möglichkeit, sich auch besser an den letzten Besuch zu erinnern.
Wie so oft kommt hier allerdings die Finanzierung ins Spiel. Da die Pflegeversicherung musikgeragogische Arbeit nicht bezahlt, müssen die Einrichtungen, die mich beauftragen, dies aus ihrem eigenen Etat finanzieren, so wie es der Tagestreff Nordangeln tut. Ich bin dankbar, dass hier so tolle Rahmenbedingungen für eine kontinuierliche Arbeit mit den Gästen gegeben sind. Die Gäste profitieren davon enorm.
Inzwischen ist das Lieder-ABC beim Ende des Alphabetes angelangt. Und das passt gut, denn aus der Küche dringt bereits der Duft des Mittagessens. Petra Voyatzian sammelt ihre Perkussionsinstrumente ein und verabschiedet sich persönlich von allen Gästen. Auch Liese lässt sich noch einmal ausgiebig kraulen. Noch mehr Frühlingslieder heißt das Motto für die nächsten Besuche!
Frau Voyatzian, herzlichen Dank für die Einblicke in Ihre Arbeit!